City – Am Fenster (1978)
Kennt jemand von euch noch „Am Fenster“ von City? Dies ist eine Geschichte von „subversiven“ Aktivitäten in der DDR und von einer Band, die listig ihre eigenen Vorstellungen gegenüber der Obrigkeit durchsetzt, weil sie von ihrem Werk überzeugt ist. Wo ein Wille, da ein Weg.
Die Violine hat ein westdeutscher Onkel des Schlagzeugers Klaus Selmke der Band gestiftet. Bassist Georgi Gogow kann prima mit ihr umgehen. Daneben gehören Fritz Puppel (Gitarre) und Toni Krahl (Gesang) zu City. „Am Fenster“ wird ein sehr erfolgreicher Song, in Westdeutschland der erfolgreichste DDR-Rocksong. Auch ich war damals von ihm fasziniert – und bin es heute noch.
Das komplette „Am Fenster“ beginnt mit einem Vorspann aus akustischer Gitarre und Violine, dem „Traum“. Dieser endet abrupt, wie Träume es oft tun. Nun kommt der „Tagtraum“. Eine Uhr tickt … Schritte … der Vorhang wird aufgezogen … das Fenster geöffnet … Besteck und Geschirr klappern … Glocken klingen seltsam zögerlich herein und inspirieren den Protagonisten, mit seiner Gitarre das Lied anzustimmen, zu summen und zu pfeifen, von dem er zuvor geträumt hat. Und dann geht es richtig los.
Ein Gitarrenakkord. Die Violine spielt einige Takte. Die Bassdrum setzt ein, dann der Gesang. Der Text ist ein Gedicht von Hildegard Maria Rauchfuß … die erste Strophe. Gesang und Violine werden intensiver und wieder ruhiger. Die Violine wird gezupft, dann wieder gestrichen und mit elektronischen Effekten (Echo) versehen. Die zweite Strophe. Die Gitarre spielt im Flamenco-Stil und im zarten Dialog mit der Violine. Sänger Toni Krahl vergisst die dritte Strophe und wiederholt deshalb die zweite.
Das hätte man korrigieren können – wenn man gedurft hätte. Auf Konzerten hat City das Stück schon öfter gespielt. Aufnehmen will es die DDR-Plattenfirma Amiga jedoch nicht, da es mit über sieben Minuten viel zu lang sei, da eine Violine nicht zur Rockmusik passe und da es keinen Refrain enthalte.
Amiga räumt City 1976 für Aufnahmen anderer Songs vier Stunden im Studio ein. Als die geplanten Aufnahmen im Kasten sind, bleibt noch etwas Restzeit. Georgi Gogow bittet den Tontechniker Helmar Federowski, ein zusätzliches Stück einspielen zu dürfen. Der willigt ein unter der Bedingung, dass es nur für private Zwecke genutzt und nicht an die Öffentlichkeit gebracht werde. „Am Fenster“ wird in einem Take – also praktisch live im Studio – aufgenommen.
Gogow sucht unverzüglich den Redakteur Frank Gerstmann von der Beatkiste, einer maßgeblichen Musiksendung im DDR-Rundfunk, auf und bittet ihn, den Titel zu spielen. Dies geschieht – und dann stürmen die jungen Leute ihre Plattenläden. Doch die Platte gibt es nicht.
Nun hat Amiga ein Einsehen. „Am Fenster“ erscheint 1977 in der DDR als Single. In Westdeutschland wird es 1978 als Maxi-Single herausgegeben und im selben Jahr in der langen Version auf LP. Das komplette Stück „Traum/Tagtraum/Am Fenster“ läuft 17 Minuten und 40 Sekunden, „Am Fenster“ für sich genommen 10:57. Ich habe zudem Versionen von 7:23 (Special Version) und 3:59 (Radio Edit). Aber keine Frage – die längste ist die beste.
Und dass Violinen in der Rockmusik wunderbar klingen können, zeigen beispielsweise Bob Dylan mit seiner fulminanten Anklage „Hurricane“ (1975) und It’s A Beautiful Day in mehreren Songs auf „It’s A Beautiful Day“ (1969).
Hier gibt es die komplette LP-Version mit „Traum/Tagtraum/Am Fenster“: https://www.youtube.com/watch?v=ZFtMtalfa_Q
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Zitat von Hagen im Beitrag #1
Kennt jemand von euch noch „Am Fenster“ von City?
Das spielten sie in den 80ern immer in unserem „Sound“ und anderen Dorfdissen. Darauf folgte oft „Julia" von Pavlov’s Dog. *Nostalgie-Tränchen abwisch* Die lange Version kannte ich bisher noch nicht. Kennst du die Klaus Renft Combo oder Freygang? Zwei ebenfalls politische Bands aus der ehemaligen DDR.
Zitat von Wölfi im Beitrag #2
Kennst du die Klaus Renft Combo oder Freygang?
Nee, Wölfi, kenne ich nicht so richtig. Nur dem Namen nach. Ich habe mindestens von der Klaus Renft Combo schon Musik gehört, jedoch nicht in Erinnerung behalten. Bei uns wurden an DDR-Bands meist nur die Puhdys, Karat und eben City gespielt. Karat habe ich mehrmals live gesehen, aber „Am Fenster“ war für mich der absolute Kracher. Auch „Aus der Ferne“ von City mag ich sehr gerne.
Klaus Renft Combo - Zwischen Liebe und Zorn:
https://www.youtube.com/watch?v=LOYb2bqU-NU
Und das aktuelle Cover von Wucan:
https://www.youtube.com/watch?v=vLCyvev3...nGfmkAA&index=6
Hallo Hagen und erstmal das längst überfällige Willkommen bei uns im neuen Rockforum.
Das ist zunächst erstmal eine interessante, bewegende und mir bisher nicht bekannte Geschichte.
Wie auch Wölfi kenne ich das Lied natürlich aus diversen Dorf-Dissen, war ein Klassiker, zu dem die Mädels gerne barfuß getanzt haben.
Als Bewohner der damaligen Zonenrandregion habe ich sowohl DDR-Fernsehen als auch Radio empfangen und in den jungen Teenie-Jahren zwar nicht verstanden aber die Sehnsucht in den Liedern (und z.T den Filmen) wahr genommen.
Ein Thema, das mich immer faszinieren wird. Danke für den Beitrag!
Kennt ihr Engerling? Eine Ost-Berliner Bluesrockband, die seit 1994 Mitch Ryder auf Tournee begleitet und auch an Aufnahmen von ihm beteiligt ist.
MITCH RYDER (feat. Engerling) | War (live, 2014)
https://youtu.be/-2j0KSoROzM
Zitat von Hagen im Beitrag #7
obwohl er da völlig zugedröhnt war.
Santana war in Woodstock auch völlig zugedröhnt, was sicher in deinem Buch steht, das ich mir heuer zu Weihnachten wünsche. Stell dich doch mal in unserem Fred „Mitglieder stellen sich persönlch vor“ kurz vor. Kriegst auch zwei kleine Döts von mir und eine Frage gestellt. ;-)
Casablanca war die einzige LP, die ich mir von City gekauft habe. Am Fenster kam für mich zu früh.
Gogow hatte sich ja zwischenzeitlich abgeseilt und mit NO 55 2 tolle Alben abgeliefert(Kopf oder Zahl und Träume von gestern). Bei Karat würde ich die Songs Albatros und Schwanenkönig hervorheben. Und da die beste deutsche Band noch nicht genannt wurde, das war Silly.
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